Montag, 4. Januar 2016

180° Meer von Sarah Kuttner.


Originalausgabe - Erschienen im S. Fischer Verlag - 2016

Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat, ist Jule mit ihrem Bruder und ihrer selbstmordgefährdeten Mutter aufgewachsen. Als Erwachsene hat sie sich einen Alltag geschaffen, in dem sie alles nur noch irgendwie erträgt: ihren Job als Sängerin, die unzähligen Anrufe ihrer Mutter, den ganzen Hass in ihr, der sie fast verschwinden lässt. Als auch ihre Beziehung zu bröckeln beginnt, flieht sie zu ihrem Bruder nach England, auf der Suche nach Ruhe und Anonymität. Doch dort trifft sie auf ihren Vater, der im Sterben liegt. Zaghaft beginnt Julie einen letzten Versuch, sich dem Mann anzunähern, von dem sie sich ihr Leben lang im Stich gelassen gefühlt hat.

Meine Liebe zu Sarah Kuttner ist deep. Und wie bereits erwähnt, konnte ich den Erscheinungstermin ihres neuen Buches "180° Meer" kaum erwarten. Folgerichtig dauerte die Lektüre nicht besonders lange. Leider. Denn von allen Sarah-Kuttner-Büchern (und ich habe sie alle gelesen, ne. Beispielsweise "Wachstumsschmerz".), gefällt mir dieses hier am besten. 

Der Einstieg erinnert erst einmal an einen beliebigen Endzwanziger-in-Berlin-Roman. Natürlich wohnt Jule in Berlin, natürlich ist sie mit der Gesamtsituation unzufrieden. Doofer Job, doofes Liebesleben, doofe Familie. Das hat man schon sehr oft gelesen, das kennt man. Vielleicht braucht es aber auch so einen bekannten Einstieg, um sich umso heftiger in Sarah Kuttners Sätze zu verlieben, die so herrlich leidenschaftslos ausgespuckt daherkommen:

Also dachte ich nein und sagte ja und ließ mich leidenschaftslos von Andreas ficken, und seitdem stören wir die Menschen beim Essen ab acht.

Berlin ist Sarah Kuttner dieses Mal aber als Schauplatz zu klein - the world is not enough, und so - deswegen flieht Jule beziehungskrachbedingt nach London zu ihrem Bruder. Dort gibt es nicht nur Abstand zur Beziehung, sondern auch plötzlich geografische Nähe zum Vater, der die Familie verlassen und somit Jule die Aufgabe überlassen hat, sich um die depressive Mutter zu kümmern. Eben jene depressive Mutter ruft auch ständig Jule an, um ihr Leid zu klagen. Eben jene Jule tritt die Flucht nach vorne an, genauer gesagt nach Eastbourne, in der Nähe von Brighton. Warum? Meer!

Meer ist nichts wert, wenn es sich nicht zu 180° vor mir erstreckt.

So ein wahrer Satz, vielleicht breche ich meine Anti-Wandtattoo-Regel und schreibe das groß übers Bett oder so. 

Jule sitzt nun also am Meer und starrt selbiges an. Dies tut sie aber nicht allein, aus London hat sie einen Hund mitgebracht. Der gehört eigentlich der Mitbewohnerin ihres Bruders bzw. passt die Mitbewohnerin auf den Hund auf, während die eigentliche Besitzerin herausfindet, ob ihr neuer hundehaarallergischer Freund eine Abschiebung des Hundes in ein Tierheim wert ist. Also sitzt Jule mit dem Hund am Meer, starrt selbiges und selbigen an und weiß nicht so recht, was sie jetzt machen soll. Daher arbeitet sie erst einmal freiwillig in einem Altenheim und bespaßt dort alte Leute (eine meiner Lieblingsepisoden im Buch - das Bewerbungsgespräch im Altenheim. Hinter der Chefin hängt ein Porträt der Queen und Jule ist ganz entzückt davon. Weil ich ein großartiger Detektiv bin, habe ich herausgefunden, dass es sich um dieses Bild handeln muss. Jetzt will ich das auch als Plakat haben). 

Die Bespaßung dient eigentlich nur der Ablenkung. Schließlich wohnt Jules Vater ganz in der Nähe. Jules Vater hat Krebs, weswegen alle irgendwie auf eine Aussöhnung zwischen Vater und Tochter hoffen und drängen. Nur Vater und Tochter finden das nicht ganz so prima. Und Sarah Kuttner gelingt es, das Ende nicht kitschig-herzschmerz-drama-mäßig zu gestalten, was mir doch sehr gut gefällt. 

Sarah Kuttners Schreibstil ist erwachsener geworden. Die Themen Selbstfindung - Wer bin ich? - Was mach ich? - spielen weiterhin eine wichtige Rolle, werden aber sehr viel reifer und durchdachter umgesetzt als noch in den Vorgängerbüchern. Die Sehnsucht nach dem Meer, nach einem Ertrinken in der anonymen Masse der Großstadt, durchzieht das Buch und hinterlässt ein wohlig-beklemmendes Gefühl beim Leser

Jedenfalls bei mir. Ich möchte gerne zusammen mit dem Buch, mit einem Hund und der Queen am grauen Meer sitzen und ein wenig starren.

3 Kommentare:

Steffi hat gesagt…

Klingt klasse. Hab noch nie ein Buch von Sarah Kuttner gelesen. Wusste gar nicht, dass sie so tiefgründig schreibt. Vielen Dank für deine interessanten Zeilen.

Liebe Grüße, Steffi

Tina hat gesagt…

Den letzten Satz unterschreibe ich so! :)
Bin sehr gespannt auf das Buch und hoffe es, es kommt diese Woche endlich an. Habe es letztes Jahr schon gekauft - jetzt muss nur die Buchhandlung liefern, dass ich loslegen kann! :)

Unknown hat gesagt…

Sehr gut auf den Punkt gebracht!
Für mich steht jetzt schon fest, dass ich bald mehr von Sarah Kuttner lesen muss und will!