Originalausgabe - Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch - 2016
Welchen Einfluss haben Ereignisse auf uns, die vor siebzig Jahren stattgefunden haben?
"Tante Margit war der Auslöser meiner Reise in die Geschichte, ihretwegen habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit meiner Herkunft auseinandergesetzt. Es war ein Massaker an 180 Juden, das mich meiner Familie näherbrachte."
Es war der 22. Juli 2016 und Karla Paul stellte im ARD Buffet Bücher für den Sommer vor. Gesehen habe ich das wieder mal nur ausschnittsweise und nicht live, man arbeitet ja um diese Uhrzeit. Vollkommen überraschend hat mich dieses Mal ein Buch der Auswahl angesprochen, welches nicht unbedingt in mein normales Leseverhalten passt. Ein Sachbuch! Und diese kurze Vorstellung von "Und was hat das mit mir zu tun" reichte aus, dass ich nach Feierabend noch in einer Buchhandlung nach dem Buch suchte. Und es fand. Und fröhlich nach Hause fuhr. Bis ich Twitter öffnete. Es war der 22. Juli 2016 und im OEZ wurden bei einem Amoklauf neun Menschen getötet. Die Frage "Und was hat das mit mir zu tun?" wird plötzlich drängender, wenn solche Gewalttaten in das nähere Umfeld rücken ...
Bei Sacha Batthyany stellt sich die Frage, was das alles mit ihm zu tun hat erst, als er von einer Kollegin auf einen Zeitungsartikel angesprochen wird. Batthyanys Familie stammt aus Ungarn, die Großtante soll kurz vor Kriegsende eine Party veranstaltet haben, bei der 180 Juden zum Vergnügen erschossen wurden. Was macht das mit einem Menschen, wenn man herausfindet, dass Familienmitglieder an Naziverbrechen beteiligt waren? Sacha Batthyany versucht diese Frage zu beantworten, fährt nach Ungarn, Österreich, Russland, Argentinien und begibt sich dort auf die Suche nach Spuren der Vergangenheit. Was er dabei findet, ist keine eindeutige Antwort, sondern ein Versuch, die eigene unsichere Persönlichkeit durch vergangene Einflüsse zu erklären.
Huch. Hatte ich mich nicht bei Ralf Rothmann noch beschwert, dass ich diese Vererbungstheorie arg verschwubbelt finde? Bei Sacha Batthyany ergibt sie plötzlich Sinn. Vielleicht auch deshalb, weil er nicht mit dem Holzhammer vom Vererben des Leids spricht. Vielleicht auch, weil Sacha Batthyany einen ganz besonderen Seele-Striptease ablegt und man ihm gar nicht kritisieren kann.
Wobei das nicht ganz stimmt. Und doch irgendwie schon. Mein größter und einziger Kritikpunkt an "Und was hat das mit mir zu tun?" bezieht sich nämlich nicht auf Sacha Batthyanys Text selbst, sondern auf den Klappentext. Dieser weckt Ansprüche an das Buch, welches das Buch aber gar nicht halten kann. Laut Klappentext geht es vorwiegend um Gräfin Margit Thyssen-Batthyány und wie es dazu kam, dass bei einem Fest 180 Juden erschossen wurden. Tut es aber gar nicht. Dieser Vorfall dient Sacha Batthyany nur als Ausgangspunkt seiner Recherchen, bei denen er auf eine weitere interessante Geschichte um seine Familie stößt. Es geht nicht mehr um das Schicksal von 180 Juden, sondern um das Schicksal einer jüdischen Familie, die für Sacha Batthyanys Vorfahren gearbeitet hat. Und obwohl diese Geschichte durch die Fokussierung auf nur wenige beteiligte Personen sehr viel plastischer erzählt ist, hatte ich am Ende doch das Gefühl, dass noch etwas fehlt. Wie kam es denn nun dazu, dass auf einem Fest Nazi-Offiziere Juden erschießen? Die Antwort auf diese Frage bleibt Sacha Batthyany schuldig. Und eigentlich ist das auch nicht weiter schlimm. Der Verlag hätte nur im Klappentext einen anderen Fokus setzen müssen und alles wäre gut.
Damit hier auch kein falscher Eindruck entsteht – mich hat "Und was hat das mit mir zu tun?" extrem gefesselt. Wenn man das bei einem Sachbuch so sagen kann. Ständig habe ich die Lektüre unterbrochen und Dinge recherchiert, die im Buch angesprochen wurden. Ständig musste Herr Gatsby als Ungarn-Experte herhalten und Fragen beantworten. Die Aufarbeitung der Geschichte anhand einer einzelnen Familie hat mir sehr gut gefallen, weil sie persönlicher vonstatten geht.
Sacha Batthyany erzählt meisterhaft ein Familienschicksal, ein Geschichtsschicksal, welches einen komplett einnimmt und wahrlich nur schwer aus dem Kopf zu kriegen ist.
"Wie kann man nur so blind sein?, fragte ich mich. Wie geht das, dass ein ganzes Volk nicht hinsehen will? Aber ist es heute so viel besser?" (S. 139)
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