Sonntag, 11. September 2016

Der Jonas-Komplex von Thomas Glavinic


Originalausgabe - Erschienen bei S. FISCHER - 2016

Ein Jahr im Leben eines Wiener Schriftstellers, zwischen Drogen, Alkohol und Frauen. Ein Abenteuer, das Jonas und seine große Liebe Marie bis zum Südpol führen soll. Und ein dreizehnjähriger Junge, der leidenschaftlich Schach spielt, um seinem Alltag zu entfliehen. Dazu Nebenfiguren wie aus einem Tarantino-Film: Ein Anwalt der Hells Angels, ein WingTsun-Großmeister und eine Mörderin, die die Leichen ihrer Liebhaber mit einer Kettensäge zerlegt. Die wirkliche Welt trifft auf die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Und Thomas Glavinic gelingt das große Kunststück, all das in einen mitreißenden Roman über die entscheidenden Fragen zu verwandeln: Wer will ich sein? Und habe ich den Mut, die richtigen Entscheidungen dafür zu treffen?

Hallo, mein Name ist Marina und ich bin ein Glavinic-Fangirl. Trotzdem hat es eine Weile gedauert, bis ich mich an das neue Werk herangetraut habe. Oder vielleicht gerade deswegen. "Das größere Wunder" ist eines meiner Lieblingsbücher, wobei "Die Arbeit der Nacht" wohl noch eine Treppenstufe darüber steht. Bei so viel Vorschusslorbeeren kann man schon mal vor Ehrfurcht erstarren und das Buch einfach nur im Regal stehen haben. Doch eine sieben Stunden lange Zugfahrt eignet sich vorzüglich dafür, ein Buch aus dem Olymp herunterzuholen. Oder so ähnlich.

"Der Jonas-Komplex" also. Jonas, unser aller Lieblingsprotagonist, der dieses Mal nicht nur denselben Namen wie der Protagonist aus "Das größere Wunder" hat, sondern auch eben jene Figur ist, steht nach der (Nicht-)Besteigung des Mount Everest vor der nächsten Herausforderung. Marie möchte gemeinsam mit ihm zum Südpol. Obwohl Jonas vor keinem noch so großen Abenteuer zurückschreckt, hat er dieses Mal doch kein gutes Gefühl bei der Sache. Warum zum Südpol? Warum nur die beiden ohne Guide? Um diesen Fragen zu entfliehen, lässt sich Jonas von seinem Anwalt verstecken. Immer wieder wacht er an unbekannten Orten auf und versucht von dort aus nach Hause zu kommen. Auch eine Art, sich auf eine Südpol-Expedition vorzubereiten. Denn von dieser lässt sich Marie nicht abbringen. Und so ziehen die beiden doch noch los.

Weststeiermark. 1985. Eine andere Geschichte. Kein Jonas, nirgends. Dafür ein Junge, der bei einer Frau lebt. Ein Außenseiter. Ein Schachspieler. Die Frau, vom Jungen Uriella genannt, bringt jeden Abend einen anderen Mann mit nach Hause. Vom Jungen selbst bekommt sie in ihrem Alkohlrausch nur selten etwas mit. Der entflieht dem Alltag durch sein Schachbrett. Und durch die kurze Freundschaft mit Baby, einem alten Mann, der Angst hat. Ein Baby eben.

Die dritte Handlungsebene – die Geschichte eines Wiener Schriftstellers. Ein Jahr lang erleben wir seinen Drogenkonsum hautnah mit, denn das ist wohl der Hauptbestandteil dieser Episoden. Drogen. Er führt Buch darüber, an welchen Tagen er keine Drogen genommen, keinen Alkohol getrunken hat. Er wacht verkatert neben fremden nackten Frauen auf. Er reist in die USA, nach Rom, kümmert sich liebevoll um seinen Sohn, besucht eine Mörderin im Gefängnis und landet im Krankenhaus.

"Die Tür geht auf. Ein Arzt tritt ans Bett und gibt mir die Hand. 'Schöne Bücher', sagt er. 'Schlechter Lebenswandel.'" (S. 621)

Wer Thomas Glavinic im Internet verfolgt, der kommt nicht umhin, die eine oder andere Parallele zwischen diesem Wiener Schriftsteller und dem Autor selbst zu ziehen. Schon in "Das bin doch ich" verschwammen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, in "Der Jonas-Komplex" geht das Ganze noch eine Stufe weiter. Vielleicht empfinde ich das auch nur so, weil ich seitdem über Thomas Glavinic weiß. Weil ich im intensiver folge. Vielleicht ist das aber auch alles nur Fassade. Vielleicht sind all die Instagram-Bilder, all die Facebook-Posts nur gestellt, damit die Realität zur Fiktion passt. Wer weiß. Ich will auch gar nicht wissen, wie viel vom echten Thomas Glavinic in "Der Jonas-Komplex" steckt. Das Buch funktioniert auch ohne dieses Wissen. Und es funktioniert. Jedenfalls streckenweise.

Oberflächlich betrachtet haben die drei Geschichten nichts miteinander zu tun. Ich selbst würde behaupten, es geht ums Suchen. Um das Suchen nach der eigenen Identität, nach einem Zuhause, nach einem anderen Leben. Und deswegen passt für mich der schachspielende Junge nicht richtig rein. Diese Passagen haben mich beim Lesen immer herausgerissen, was auch daran liegt, dass ich neunmalkluge Kinder in Büchern immer furchtbar anstrengend finde. Der Junge sucht nicht oder wenn, dann steht er erst am Anfang einer Suche. Er bleibt passiv und bleich, im Gegensatz zu den anderen zwei Geschichten langweilt mich hier der Protagonist. Vielleicht ist das als Kontrast zu dem Extrem-Abenteurer Jonas und dem Extrem-Schriftsteller ganz in Ordnung.

Für mich kommt "Der Jonas-Komplex" nicht ganz an Bücher wie "Die Arbeit der Nacht" oder "Das größere Wunder" heran. Trotzdem ist es herrlich, Thomas Glavinic beim Bearbeiten des Stoffs zuzusehen. Und ein Bearbeiten ist es, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich sehe einen Thomas Glavinic vor mir, der einen Felsen mit Hammer und Meißel bearbeiten, um daraus ein Buch zu formen. Das ist gelungen. Mit Ecken und Kanten, aber gelungen.

(Eine Anekdote am Rande. Ich hab das Buch nicht während der Zugfahrt beendet, sondern einige Tage später, als wir Abends in Budapest auf der Margareteninsel saßen. Das war dann ein schierer Gewaltakt, weil es so früh dunkel wurde, ich das Buch aber unbedingt noch fertig lesen wollte. Was dann dazu führte, dass ich mich auf der Parkbank komplett verrenkt habe, um im Schein der Straßenlaterne noch etwas erkennen zu können ...) 

1 Kommentar:

Janna | KeJasWortrausch.de hat gesagt…

ich war ganz angetan vom komplex ;) für mich wars das erste buch des autoren