»Zum Paradies« von Hanya Yanagihara

Originaltitel: »To Paradise« - Aus dem Englischen von Stephan Kleiner - Erschienen bei Claasen - Januar 2022 - Herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar!

Was bindet Menschen aneinander? Existiert eine größere Freiheit als die Freiheit zu lieben? Wie viel Unfreiheit ertragen wir im Tausch gegen Gesundheit? Wer sind wir, wenn niemand sich mehr an die Welt unserer Kindheit erinnert? Was würden wir tun, um die zu schützen, die wir lieben? Was passiert mit uns, wenn wir dazu nicht mehr in der Lage sind? Und was sind wir bereit zu verdrängen, um an das irdische Paradies zu glauben? Der neue Roman von Hanya Yanagihara ist eine Aufforderung, eine Zumutung, ein Meisterwerk menschlicher Gefühle. Indem sie die Schicksale von drei Menschen aus drei Jahrhunderten in einem einzigen Haus zusammenführt, kann sie von beinahe allem erzählen, worüber sich heute zu erzählen lohnt.

Da ist es nun. Das Buch, auf das die Blog-Szene so lange gewartet hat. Der neue Roman von Hanya Yanagihara. Was kommt da nach »Ein wenig Leben«, einem der intensivsten Bücher, die ich je gelesen habe? Das sei an dieser Stelle schon einmal verraten: »Zum Paradies« muss den Vergleich mit dem großen Vorgänger nicht scheuen. 

Hanya Yanagihara erzählt in »Zum Paradies« nicht nur eine, sondern gleich drei einnehmende Geschichten, die zu drei unterschiedlichen Zeiten und in drei unterschiedlichen Welten spielen. Zentrum aller Geschichten ist ein Haus am Washington Square. Und es geht um nicht mehr und nicht weniger als das Leben an sich.

1893.

»Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, vor dem Abendessen um den Park zu gehen: zehn Runden, an manchen Abenden so langsam, wie es ihm behagte, an anderen zügig, und dann die Stufen des Hauses wieder hinauf und in sein Zimmer, um sich die Hände zu waschen und seine Krawatte zu richten, ehe er sich wieder nach unten zu Tisch begab.« (Seite 9)

David stammt aus einer der wohlhabendsten Familien New Yorks. New York, das ist nicht so, wie wir es vielleicht zu kennen glauben, sondern Teil der Freistaaten, die sich in Amerika gebildet haben. Dort sind die Menschen frei, frei zu leben, wie sie möchten, frei, zu lieben, wie sie möchten. Davids Familie erhält ein Angebot für eine Hochzeit mit dem wesentlich älteren Charles, welches David zögerlich in Betracht zieht. Doch eine leidenschaftliche Affäre mit einem Musiklehrer macht alle Pläne zunichte und wird David in eine ungewisse Zukunft führen.

1993.

»Der Brief traf am Tag der Party im Büro ein.« (Seite 229)

David ist Anwaltsgehilfe in einer angesehenen Kanzlei. Dass er außerdem der Lebensgefährte von Charles, einem der Anwälte, ist, weiß niemand im Büro. Gemeinsam leben die beiden in einem luxuriösen Haus am Washington Square. Dort findet eine Abschiedsparty zu Ehren eines schwer erkrankten Freundes statt, der in die Schweiz fahren will, um dort begleitete Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Der im Zitat erwähnte Brief stammt von Davids Vater und erzählt im zweiten Teil der Geschichte von dessen Leben als Sohn des ehemaligen Königs von Hawaiʻi. 

2093.

»Normalerweise nehme ich den 18.00-Uhr-Shuttle nach Hause, der mich, je nachdem, wie viele Unterbrechungen es gab, irgendwann zwischen 18.30 und 18.40 an der Ecke Eighth Street und Fifth Avenue herauslässt, aber heute wusste ich, dass eine Zeremonie stattfinden würde, also fragte ich Dr. Morgan, ob ich früher gehen könnte.« (Seite 459)

Die junge Charlie lebt in Zone 8 im ehemaligen New York. Ihr Alltag ist geprägt von Vorsichtsmaßnahmen und Regeln zur Eindämmung einer Seuche, die in den letzten Jahrzehnten die Erde heimgesucht hat. Ihr Großvater Charles war ein bekannter Wissenschaftler, der sich dem Kampf gegen die Krankheit verschrieben hatte, bis sich die Zeiten änderten und falsche Entscheidungen getroffen wurden. 

Jede einzelne der drei Geschichten ist so herausragend ausgearbeitet, dass ich nach dem jeweiligen Ende traurig war, die Protagonist*innen schon wieder verlassen zu müssen. Und gleichzeitig war ich voller Neugier, wie sich die nächste Geschichte entwickeln wird, welche Überschneidungen und kleinen Anspielungen die Autorin eingebaut hat, um die Geschichten miteinander zu verweben.

»Zum Paradies« wird getragen von den Protagonist*innen, die Yanagihara mit so viel Liebe zum Detail zum Leben erweckt wie nur wenige Autor*innen es können. Darin liegt für mich die große Stärke von Hanya Yanagihara. Hinzu kommen drei interessante Interpretationen unserer Welt, die sich durch ganz eigene Facetten auszeichnen. Insbesondere die dystopische Zukunftsversion in der dritten Geschichte hat gerade jetzt einen bitteren Beigeschmack und lässt mich mit der Frage zurück, wie sehr die aktuelle Pandemie das Schreiben der Autorin geprägt hat. 

Über 890 Seiten füllt Hanya Yanagihara mit Leben und der im Hintergrund immer schwebenden Frage, was das Paradies eigentlich ausmacht. Dabei verliert sie sich aber auch ein wenig in der Vielzahl an Charakteren und Lebensgeschichten. Ein Umstand, auf den man sich als Leser*in einlassen muss. Doch ich verzeihe die kleineren Schwächen, die sich für mich insbesondere in der zweiten Geschichte gezeigt haben, gerne. Denn »Zum Paradies« beschenkt die Leser*innen mit dem, was für mich ein gutes Buch ausmacht – stundenlanges Eintauchen in andere Leben mit neuen Perspektiven auf das eigene Leben.

Ich bin schon sehr gespannt, wie das Buch bei anderen Leser*innen ankommt. Habt ihr »Zum Paradies« schon gelesen? Welche der drei Geschichten hat euch am besten gefallen?